Aufführung vor Schloss Grafeneck, dem historischen Ort der „Euthanasie“-Verbrechen
Seit Herbst 2020 ist das Reutlinger Tonne Theater mit seinem spartenübergreifenden inklusiven Straßen-Theaterprojekt „Hierbleiben … Spuren nach Grafeneck“, einer Produktion des Theatervereins, unterwegs und bespielt damit zentrale Plätze in Orten aus denen im Jahr 1940 Menschen mit Behinderung systematisch abgeholt wurden, um sie in Grafeneck zu ermorden. Nach bisher 16 unterschiedlichen Spielorten kam das Ensemble nun am Dienstag, 27.07.21 an jenen Ort, der für 10.654 Menschen nicht nur Endpunkt ihrer Reise in den berüchtigten grauen Bussen, sondern auch gewaltsam herbeigeführter Endpunkt ihres Lebens war: ins idyllisch gelegene Schloss Grafeneck.
Ganz zu Beginn der Arbeit an dieser Produktion waren alle Beteiligten schon einmal dort gewesen und hatten sich in der sehr informativen Gedenkstätte über die unfassbaren Geschehnisse kundig gemacht sowie die Atmosphäre intensiv aufgesogen, um daraus theatralisch umsetzbares Material für die Produktion auf Spurensuche deportierter und ermordeter Menschen zu kreieren.
Berichte über die Erlebnisse und Gefühle der Ensemblemitglieder bei dieser ersten Begegnung sind auch direkt ins Stück eingebaut, wie auch Erkenntnisse aus dem dokumentarischen Material wie etwa die „Trostbriefe“, die nach der Ermordung mit fiktiven Todesursachen versehen, die Angehörigen ruhigstellen sollten.
Mit – trotz aller persönlicher Betroffenheit – großer Spielfreude und Authentizität nähert sich das 12-köpfige Ensemble in dieser facettenreichen 1 ½ stündigen Auseinandersetzung über Mittel des Schauspiels, des Tanztheaters, mit viel (Live-)Musik sowie bildender- und Medienkunst assoziativ der systematischen Bewertung von Leben durch die Nazis und den grausamen Folgen für Menschen, die nicht der gesetzten Norm entsprachen.
Theatralisch verpackt werden somit zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung mit diesem düsteren Kapitel deutscher Geschichte geboten, die besonders auch für Schulklassen als anregende Diskussionsgrundlage gedacht sind und Menschen vor Ort erreichen, die nicht unbedingt ins Theater gehen und auch nicht die Begegnung mit Menschen mit Behinderung suchen würden. Interaktive Momente wie das Überreichen der selbst gestalteten Porträts schaffen eine enge Verbindung zwischen Agierenden und Publikum. So sprang auch bei der Vorstellung in Grafeneck schnell der Funke über und zog die ca. 120 Zuschauer*innen schnell in seinen Bann. Sicherlich spielte dabei auch der denkwürdige geschichtsträchtige Ort eine besondere Rolle, der auch die Mitwirkenden bei aller Professionalität besonders berührte. In vom gerade Gesehenen sehr angeregten Gesprächen berichteten im Anschluss an die Vorstellung zahlreiche Zuschauer*innen von einem beeindruckenden und bewegenden Theatererlebnis.
Über 1.800 Zuschauer*innen verfolgten die bisher 17 gespielten Aufführungen
Coronabedingt hatte es nach der Premiere im September 2020 eine lange Unterbrechung der Aufführungsreihe gegeben. Außerdem hatte der interaktive Aspekt der Produktion, als denn endlich überhaupt eine Premiere stattfinden konnte, leider reduziert werden müssen. Statt des ursprünglich angedachten Laufpublikums musste es feste Sitzplätze geben, um genügend Abstand zu garantieren und Kontaktdaten müssen jedes Mal hinterlegt werden. Trotz dieser Hürden haben mittlerweile bei nun 17 Vorstellungen über 1.800 Zuschauer*innen die Produktion erlebt – in der Region etwa in Gammertingen-Mariaberg, Zwiefalten, Sigmaringen und Reutlingen.
Die Vorstellung in Gomadingen-Grafeneck bildete den Abschluss der Aufführungsreihe vor den Sommer- und Theaterferien. Ab Mitte September sollen noch bis Mitte Oktober 2021 weitere acht Termine das Projekt beschließen.
Herzlichen Dank an die Gedenkstätte Grafeneck und die Samariterstiftung für die vielfältige Unterstützung, wie beispielsweise der Recherche der Biografien von in Grafeneck Ermordeten.
Fotos: Theater Reutlingen Die Tonne
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