Ende des Grafeneck-Projekts
Abschlussbericht des Straßentheaterprojekts »Hierbleiben…Spuren nach Grafeneck«
Seit Anfang 2020 war das inklusive Ensemble des Theater Reutlingen Die Tonne mit der Umsetzung des Straßentheaterprojekts »Hierbleiben…Spuren nach Grafeneck« beschäftigt. Beantragt und getragen wurde das Projekt vom Reutlinger Theater in der Tonne e.V.. Finanziell ermöglicht wurde das Projekt von einem bisher einmaligen Zusammenschluss von neun LEADER-Regionen in Baden-Württemberg in Kombination mit der Förderung der Lernenden Kulturregion Schwäbische Alb im Rahmen von TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes. Der Eigenanteil des Theater Reutlingen ist durch Mittel des Landkreis Reutlingen finanziert, außerdem durch Mittel von Daimler Truck.
Das Projekt nahm sich die „Euthanasie“-Verbrechen im Jahr 1940 in Südwestdeutschland zum Anlass. Zentral in der Auseinandersetzung mit diesem schwierigen historischen Erbe war dabei im Ensemble die Frage der eigenen Betroffenheit der Darsteller*innen mit Beeinträchtigungen. Fragen wie „Wäre ich damals auch ermordet worden?“ und „Kann so etwas abscheuliches wieder passieren?“ wurden dabei aufgeworfen. Gleichzeitig sollte bei den Aufführungen die Situation von Menschen mit Behinderung im hier und jetzt, ihre heutige Situation, aufgezeigt werden, nicht zuletzt als Darsteller*innen auf einer Bühne. Wichtig war es der Produktion, den Ermordeten zu gedenken, sich auf die Spurensuche ihres Schicksals zu begeben aber auch einen zur Situation in der heutigen Zeit zu spannen.
Im Februar 2020 fuhr das Ensemble mit allen Beteiligten zu einer Exkursion nach Grafeneck, zur Gedenkstätte und dem Dokumentationszentrum. Dort wurden wir einen Tag lang begleitet, lernten den Ort und seine wechselhafte Geschichte kennen, besonders natürlich die Gräueltaten im Jahr 1940, die systematische Ermordung von 10.654 Menschen mit Beeinträchtigungen, für deren Unterbringung laut nationalsozialistischem Kalkül mehr hätte aufgewendet werden müssen, als diese einbrächten.
Entstehung der Produktion Anfang 2020
Durch die Zusammenarbeit verschiedener Künstler*innen wurde seitdem nach und nach eine mobile, spartenübergreifende Straßentheaterproduktion kreiert. Ziel des Projekts war es, an möglichst vielen von den Deportationen betroffenen Orten aufzuführen. Insgesamt standen 25 in Baden-Württemberg gelegenen Orte auf dem Programm, der insgesamt 49 betroffenen Orte in Süddeutschland und darüber hinaus. Durch die Form des Straßentheaters auf öffentlichen, zentralen Plätzen sollten Menschen erreicht werden, die zufällig vorbeikamen – Laufpublikum, aber auch geladene Gruppen wie Schulklassen waren ein zentrales Zielpublikum. Die Aufführungstermine wurden daher unter der Woche an Schultagen außerhalb der –ferien disponiert, um Schulklassen die Teilnahme zu ermöglichen. Es sollten Menschen erreicht werden, die sonst vielleicht nicht ins Theater gehen, den Kontakt zu Menschen mit Behinderung suchen oder sich mit dem Thema der „Euthanasie“-Verbrechen beschäftigt haben.
Der Theaterbus mit dem Ensemble, Requisiten, Bühnenbild und sollte in Tagesfahrten vom Theater Reutlingen aus zu den Spielorten fahren. Von Anfang an war geplant, dass die Entstehung der Produktion sowie die Aufführungen von einem Dokumentarfilmerinnen-Team begleitet werden, um filmisch den Prozess der Entwicklung des Projekts und des Ensembles festzuhalten. Ursprünglich war geplant, die Inszenierung in 20 minütigen, individuell kombinierbaren Modulen zu präsentieren.
Notwendig gewordene Änderungen und Umplanungen bedingt durch die Corona-Pandemie
Die Premiere hätte ursprünglich am 8. Mai 2020 in Reutlingen auf dem Marktplatz im Rahmen des Festivals Kultur vom Rande stattfinden sollen. Bis Ende 2020 sollte das Projekt mit allen 25 Aufführungen beschlossen werden. Die Corona-Pandemie machte einige Änderungen und Neuplanungen notwendig. Eine ursprünglich für Anfang April 2020 geplante Pressekonferenz, die über die bevorstehende Premiere berichten sollte, musste abgesagt und verschoben werden. Kurz darauf dann musste auch die Premiere verschoben werden, ebenso aufgrund der sich verschlechternden Infektionslage durch das Corona-Virus. Die Hoffnung lag auf einem Premierentermin noch vor den Sommerferien 2020. In dieser Zeit der Unsicherheit über den weiteren Verlauf des Projekts wurde deutlich, dass sich der Arbeitsaufwand der drei extra vom Verein als Projektträger angestellten Mitarbeiter*innen stark verringerte. Glücklicherweise konnte auf das Instrument des Kurzarbeitsgelds der Bundesagentur für Arbeit zurückgegriffen werden.
Im weiteren Verlauf der Pandemie wurde klar, dass Kulturveranstaltungen erst nach den Sommerferien 2020 wieder möglich sein würden, mit dem 17. September 2020 stand nun ein neuer Premierentermin im Kalender.
Pressekonferenz zum Beginn, Premiere in Mosbach im Herbst 2020
Vor der ersten Aufführung wurde im Juli 2020 dann die Pressekonferenz in Gomadingen-Grafeneck anberaumt, um den offiziellen Beginn des Projekts mit den bevorstehenden Aufführungen der Öffentlichkeit vorzustellen. Die Premiere fand schließlich am 17. September 2020 in Mosbach (Baden), auf dem Marktplatz Stadt – genau 80 Jahre nach einer der Deportationen vom 17. September 1940 aus Mosbach nach Grafeneck.
Für die Aufführungen wurde nun eine Anpassung des Aufführungskonzepts notwendig. Um die notwendigen Abstände zum Infektionsschutz zwischen den Besucher*innen aber auch zum Schutze der Darsteller*innen einhalten zu können, wurde ein Hygienekonzept in Einklang mit den Vorgaben des Landes und in Rücksprache mit den örtlichen Behörden entwickelt. Ein abgesperrter, bestuhlter Bereich vor der Aufführungsfläche wurde eingerichtet. Dieser durfte nur nach vorheriger Angabe der Kontaktdaten der Besucher*innen betreten werden, die Stühle waren paarweise mit Abstand von anderthalb Metern zum nächsten Paar aufgebaut. Die eingangs erwähnten modulartigen Bausteine der Aufführung wurden so zusammengefügt, dass eine neunzigminütige Aufführung entstand, auch um den Publikumsfluss besser kontrollieren zu können.
Tour im Herbst 2020, anschließende Winter- und Coronapause
Es folgten sieben weitere Aufführungen in Ottersweier-Hub, Kehl, Achern, Schwäbisch Hall und Ellwangen unter Einhaltung und Anpassung der Hygienebestimmungen an das Infektionsgeschehen bis Mitte Oktober 2020, ebenso auch in Reutlingen, der Heimat des Theater Reutlingen Die Tonne. Die ursprünglich für den 18. Oktober 2020 geplante Aufführung vor Schloss Grafeneck im Rahmen des jährlich stattfindenden Gedenkgottesdienstes, musste aufgrund der nun erneut stark ansteigenden Infektionszahlen zusammen mit der Gedenkveranstaltung abgesagt werden. Die Förderer gewährten uns erfreulicherweise eine Verlängerung des Projekts bis zum 30. Juni 2021, wodurch uns einer Weiterarbeit ermöglicht wurde.
Das Projekt ging mit der Absage der Aufführung in Grafeneck vorzeitig in die Winterpause bzw. die durch den Lockdown bedingte Corona-Pause. Hinter den Kulissen lief die Planung für die weiteren Aufführungstermine. Dank eines eigens entwickelten Testkonzepts konnten die Proben ebenso fortgeführt werden. Geplant war ab Mitte April 2021 wieder aufzuführen. Die anhaltend hohen Infektionszahlen machten Aufführungen im April jedoch unmöglich, erst zwei Monate später, ab Mitte Juni 2021 konnten wieder Aufführungen gespielt werden. Vor diesem Hintergrund war klar, dass das Projekt erneut verlängert werden musste, wir beantragten erfolgreich eine Verlängerung bis zum 31. Juli 2021 und damit bis zum Ende des Schuljahres.
Weitere Aufführungen ab Juni 2021 bis Ende Juli 2021 sowie abschließende Tour im Herbst 2021
Zwischen dem 10. Juni und dem 27. Juli 2021 konnten nach langer Pause endlich zehn weitere Aufführungen gespielt werden, in Rastatt, Sigmaringen, Meckenbeuren, Gammertingen-Mariaberg, Gengenbach, Krautheim (Jagst), Ravensburg, Rottweil und Zwiefalten. Den Abschluss vor den Sommer- bzw. Theaterferien bildete die Aufführung vor Schloss Grafeneck, dem historischen Ort der „Euthanasie“-Verbreche. So konnte der ausgefallene Termin vom Oktober des vorherigen Jahres damit nachgeholt werden.
Um wie geplant alle im Projekt vorgesehenen Aufführungen spielen zu können, beantragten wir eine letztmalige Verlängerung bei den Förderern bis zum 31. Oktober 2021. Auch diese wurde uns erfreulicherweise gewährt.
Damit konnten nach der Sommerpause ab Mitte September 2021 die verbleibenden Termine in Wiesloch, Sinsheim, Bodnegg, Tettnang, Bad Schussenried und Weinheim gespielt und dieses damit beschlossen werden. Damit konnten bis auf zwei Ausnahmen, Schemmerhofen-Ingerkingen und Maselheim-Heggbach, alle im Projekt vorgesehenen Aufführungsorte bespielt werden, diese kamen aufgrund der lokalen Corona-Restriktionen bedauerlicherweise nicht zustande.
Zwei Aufführungen zum Projektabschluss in Reutlingen
Von verschiedener Seite wurde an uns herangetragen, ob wir nicht noch eine Aufführung in Reutlingen spielen konnten. Die Deutsche Vernetzungsstelle Ländliche Räume (DVS) plante eine Tagung in Süddeutschland und wünschte sich in diesem Zusammenhang eine Aufführung des Straßentheaterprojekts sehen zu können. Schnell wurden wir uns einig, am 14. Oktober eine Aufführung in Reutlingen auf dem Marktplatz in Reutlingen im Rahmen der Tagung zu ermöglichen. Das Regierungspräsidium Tübingen erteilte zudem die Genehmigung, zu einer abschließenden Aufführung am 15. Oktober 2021, der Dernière des Projekts, ebenso in Reutlingen.
Vielfältige Berichterstattung durch Medien
Das Projekt kann auf zahlreiche Berichte in regionalen und überregionalen Medien zurückblicken. Fast jede regionale Tageszeitung kündigte eine bevorstehende Aufführung in einem der Orte an, war am Aufführungstag mit Reporter*innen vor Ort, die diese anschließend Rezensierten. Auch überregionale Medien wie der Südwestrundfunk berichteten über das Projekt, beispielsweise über die Premiere und die Pressekonferenzen zum Beginn und Ende des Projekts. Sogar international wurde berichtet, genannt werden kann hier ein Bericht in türkischer Sprache in der Istanbuler Tageszeitung Cumhuriyet. Einige Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen der Aufführungsorte ergänzten die Berichterstattung in Magazinen der Öffentlichkeitsarbeit über die Aufführungen.
Intensive Zusammenarbeit mit Gedenkstätte Grafeneck und lokalen Forscher*innen, Archiven
Nach der Exkursion zum Beginn des Projekts nach Grafeneck entwickelte sich eine intensive Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Grafeneck. Für die Recherche der aus den Aufführungsorten stammenden, nach Grafeneck deportierten Menschen wurde von Mitarbeiter*innen des Projekts die Bibliothek des Dokumentationszentrums zeitweise intensiv genutzt. Die Mitarbeiter*innen des Dokumentationszentrums unterstützen uns tatkräftig bei der Recherche von Biografien und Hintergrundinformationen und standen immer mit Rat und Tat zur Seite.
Gleichwohl etablierte sich eine Zusammenarbeit mit den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sowie meist daraus hervorgehenden, aber auch unabhängigen lokalen Forscher*inneninitiativen, Stolpersteingruppen und den Stadtarchiven. All diese Institutionen unterstützten uns ebenso bei der Recherche der Biografien, die wir im jeweiligen Aufführungsort in den Ortsspezifischen Aufführungsteilen des Stückes vorstellten.
Zusammenarbeit mit den Stadtverwaltungen der Spielorte
Die Zusammenarbeit mit den Städten der geplanten Spielorte gestaltete sich recht unterschiedlich. Sie reichte von unserem Projekt und dem Thema zugewandten Mitarbeiter*innen der Verwaltungen, die uns umfassend unterstützen und halfen bei der Umsetzung. Gleichzeitig gab es Städte bzw. deren Mitarbeiter*innen, die unser Projekt als Negativwerbung für die jeweilige Stadt wahrnahmen und es uns sehr schwer machten einen Aufführungsort und Termin zu finden – trotz des bereits vollständigen Finanzierung des Projekts. Teilweise dauerten diese Schwierigkeiten über Monate an, in einigen Fällen konnte erst durch die Zusammenarbeit mit anderen örtlichen Partner*innen wie Kirchengemeinden oder den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen konnten dann Aufführungen realisiert werden.
Gleichzeitig bekamen wir von zahlreichen Städten aus Baden-Württemberg anfragen, ob wir unser Projekt – beispielsweise vor dem Hintergrund, dass der Ort ebenso von den Deportationen betroffen war – nicht auch dort aufführen konnten. Wir würden uns sehr freuen, wenn sich für die Zukunft hier eine neue Form der Finanzierung findet, um auch diesen Anfragen entsprechen zu können und weiter den Spuren nach Grafeneck im Land zu folgen.
Reaktionen des Publikums
Bei den Aufführungen waren die unterschiedlichsten Besucher*innen vor Ort und verfolgten die Produktion. Viele Menschen kamen während ihrer Mittagspause vorbei, blieben stehen und folgten der Aufführung für eine Weile. Andere reisten extra, teilweise von auswärts an, um der Aufführung in Gänze beiwohnen zu können. Das Publikum reichte von jung bis alt. Teilweise waren mehrere Schulklassen gleichzeitig bei den Aufführungen dabei, die Besucher*innen und besonders auch die Schüler*innen suchten das Gespräch mit dem Ensemble im Anschluss an die Aufführung. Mehrere hoch betagte Besucher*innen berichteten, dass sie im Kindesalter die „grauen Busse“ selbst haben fahren sehen. Diese Bandbreite an Rückmeldungen hinterließ bei uns einen tiefen Eindruck. Die Gespräche mit den Zuschauer*innen zeigten, dass wir neben extra angereisten Menschen, die sich bereits mit dem Thema befasst hatten, auch viele zufällige Begegnungen erzeugen konnten, die ein Startpunkt für eine weitere Auseinandersetzung mit der Thematik darstellen. Viele emotionale Reaktionen waren sichtbar, die Zuschauer*innen berichteten von einem bewegenden und berührenden Theatererlebnis. Wir sind davon überzeugt, dass besonders 81 Jahre nach den „Euthanasie“-Verbrechen weiter an die Opfer von Grafeneck gedacht werden muss. Der Mahnung, dass so etwas nie wieder geschehen darf und der Hoffnung auf eine Gegenwart und Zukunft, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft sind.
Zusammenfassung
Wir blicken zurück auf ein einmaliges Projekt, das insgesamt über 3.000 Zuschauer*innen erreicht hat. Wir waren im ganzen Land unterwegs, haben etwa 5.000 Kilometer mit dem Theaterbus zu den unterschiedlichsten Orten zurückgelegt. Ursprünglich für ein Jahr angesetzt dauerte das Projekt nun fast zwei Jahre. Viele Dinge haben sich – besonders vor dem Hintergrund der Pandemie – in der Planung und Umsetzung des Projekts geändert und wurden angepasst. Unser Glück war dabei in der Pandemie-Situation, dass die Form des Straßentheaters unter freiem Himmel Aufführungen früher wieder ermöglichte, als hätten wir im geschlossenen Theatersaal gespielt.
Bis auf wenige Ausnahmen blieb es bei unseren Aufführungen erfreulicherweise trocken, lediglich die Aufführung in Ravensburg am 8. Juli 2021 musste aufgrund von anhaltendem Starkregen nach etwa der Hälfte abgebrochen werden.
Diese eigens für das Projekt eingerichtete Website wird weiterhin als Archiv abrufbar sein mit den Beiträgen zu den Aufführungen sowie verlinkten Presseberichten, dem Trailer und weiteren Hintergrundinformationen zum Stück.
Zum Abschluss des Grafeneck-Projekts gab es am 27. Oktober 2021 ein Pressegespräch im Theater Reutlingen unter Teilnahme von Medienvertreter*innen des SWR, GEA (€), sowie RTF1, bei welchem das Ensemble Bilanz über das Projekt zog, zwei Tage später folgte ein Interview im Freien Radio Wüste Welle.
Großer Dank an alle Unterstützer*innen und besonders an die Förderer
An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Weggefährt*innen, Unterstützer*innen bedanken, die uns in vielfältiger Art und Weise unterstützt haben, zum Gelingen der Aufführungen beigetragen haben!
Besonders bedanken möchten wir uns bei den genannten Förderern. Wir konnten auf umfassende Beratung, Informationen und Unterstützung zurückgreifen – zu jeder Zeit. Besonders in der durch die Corona-Pandemie verursachten Verschiebungen und Absagen von Aufführungsterminen erhielten wir Unterstützung, beispielsweise durch die LEADER-Regionalmanager*innen. Hervorzuheben sind die mehrmaligen Verlängerungen der Projektlaufzeit durch alle Förderer, um in allen Aufführungsorten spielen zu können. Herzlichen Dank!